Familien-Anamnese

Woran die Alten gestorben sind? Keine Ahnung, weiß ich nicht. Sie wurden einfach  älter und starben irgendwann. Der Holzfäller wurde gut über achtzig. Kann sein, dass er ganz zum Schluss bettlägerig war. Ich weiß nur noch, dass er in den letzten Jahren viel schlief. Er, der Sozi, nickte immer über der Bildzeitung ein, die Zigarre rollte aus seinem Mundwinkel, die Asche trollte aufs Papier.
Zuerst war da noch die Angst, dass er die Zeitung in Brand stecken könnte. Irgendwann wurde die Angst unnötig. Die Asche war ja immer schon kalt, wenn sie fiel. Er rauchte nur noch kalt. Ich musste ihn manchmal spazieren führen, das heißt, er ging auf den Stock gestützt, ich schlich nebenher. Das waren öde Nachmittage. Er redete nicht viel. Der Geschichtenerzähler war der andere, der Fuhrmann.

Der Holzfäller aß Griesbrei, mit einem Stück Butter drin. Die Zähne waren wohl nicht mehr so. Früher vertilgte er Schweinshaxe, Fleisch, wie alle Männer, am liebsten Fleisch. Seine Zigarre hab ich in der Wirtschaft geholt, immer eine um einen Zehner. Oder zwei um zwei Zehner. So hab ich's im Kopf. Wer weiß schon, ob das stimmt. Für den Fuhrmann hab ich mit dem Krug Most geholt, im selben Wirtshaus. Bis der Krug voll gezapft war, hab ich dem Tanz der Staubfäden im Sonnenlicht zugesehen.

Der Fuhrmann gehörte nicht zu den Wirtshaushockern. Er war keiner von denen, die stundenlang paffend und Schafkopf spielend am Tisch saßen, den Mostkrug immer griffbereit, die Zigarre im Mundwinkel hängend, der Stammtisch der Schwätzer, Politisierer, Phrasendrescher und Schweiger. Der Fuhrmann trank seinen Most daheim und rauchte nicht. Er hatte im Kopf einen ganzen Sack voller Geschichten. Da kramte er drin und holte eine raus für mich. Oder er ließ sich von mir frisieren. Seine letzten paar Haare, die hat er für mich geopfert. Es hat ihm nichts ausgemacht, wenn ich ihm den Kopf mit Spangen und Schleifchen verziert hab. Er hat gelacht und mich machen lassen. Er hat mit mir Karten gespielt und mich dabei ständig ausgetrickst. Ihm saß der Schalk im Nacken. Woran er gestorben ist, das weiß ich nicht mehr. Es war irgendwie nicht wichtig. Der Schalk verflog nach und nach, und ich wurde erwachsen und war nicht mehr so scharf auf seine Geschichten.

… Es gab auch Frauen. Natürlich gab es auch Frauen in der Familie. Wer sonst hätte wohl die Kinder auf die Welt gebracht und ihnen das Pflaster aufs Knie geklebt … Die Frauen sind ein anderes Thema.

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