vom Fliegen

Draußen scheint die Sonne. Großvater sitzt am Tisch in der Wohnstube. Sein Kopf ist auf die Tischplatte gesunken. Ein dünner, durchsichtiger Speichelfaden rinnt aus seinem Mund auf die geblümte Stofftischdecke. Er schnorchelt leise. Die Zigarre, die eben noch locker in seinem rechten Mundwinkel hing, ist auf den Tisch gerollt. Auf dem Tischtuch trollt kalte Asche.

Er schläft beim Lesen ein. Er raucht die Zigarren kalt.  Und wenn er durchs Dorf radelt, guckt er nach links und rechts und vergisst dabei, geradeaus zu fahren. Er ist ein alter Hans-guck-in-die-Luft. Und dann passiert es. Er fährt gegen einen Zaun oder in einen Graben, er fällt und tut sich weh und kommt alleine nicht mehr hoch. Die Mutter schimpft mit ihm, wie mit einem Kind,  und sie verbietet ihm das Radfahren. Aber -  er lässt sich nichts verbieten.

Der Großvater ist ein alter Sozi. Und, er war mal Bürgermeister.

„Es ist doch die letzte kleine Freiheit, die er noch hat“, sagt mein Vater.

Ich ziehe vorsichtig die Bild-Zeitung unterm Ellbogen des schlafenden Großvaters vor. Er grunzt. Die Spitzen seines mächtigen Schnurrbarts zucken. Ich besorge mir einen Kamm und bringe damit seine schütteren, schlohweißen Haare ein wenig in Form. Das Kitzeln des Kamms auf der Kopfhaut weckt ihn schließlich.  Widerwillig öffnet er erst das linke, dann das rechte Auge. Stöhnend hebt er den Kopf, und seine rechte Hand reibt den Nacken.

„Wie viele Kinder hatte Maria Theresia?“,  dröhnt seine Stimme durch die Wohnstube. „14“, schnarre ich und schlage die Haken militärisch zusammen. Meine Zöpfe hüpfen. Jetzt kann es endlich losgehen. Ich darf auf seiner Stange mitfahren.

Wir öffnen verstohlen die Tür der Stube und schleichen uns auf Zehenspitzen durch den Flur bis zur Haustür, hinaus  in den Hof, die Treppe hinunter in den finsteren, muffigen Ziegenstall, in dem das Fahrrad schon wartet.

Wir holen das schwere, alte Rad heraus. Ein schwarzes Männerrad. Der Großvater steigt auf, und ich klettere irgendwie auf die Stange und ziehe meinen Rock über die Beine zurecht.  Wir schwanken los, die holprige Straße entlang hinunter ins Dorf. Wir werden gegrüßt. Wir nicken huldvoll nach  links und rechts und nach oben und unten.

Wir gondeln aus dem Dorf hinaus in Richtung Friedhof. Da ruht die Großmutter.

Unser Weg führt auf halber Höhe das Tal entlang, rechts geht es steil die Böschung und dann sanft den Hang hinab. Der Großvater freut sich über die Freiheit und die schöne Gottesnatur. Er blickt hinüber zum Wald, hinunter zum Bach und hinauf in den wolkenlosen Himmel. Die Zigarre in seinem Mundwinkel bebt vor Vergnügen. Die Schnurrbartspitzen springen fröhlich auf und nieder. Rumpelstilzchen und sein Zwillingsbruder.

Wir schlingern den holprigen Weg entlang. Am Himmel über uns zieht der Bussard seine Kreise.
Großvater hebt beide Hände vom Lenker ...

wir können fliegen ...
wir fliegen ...
tatsächlich fliegen wir ...

Für einen Moment verstummen die Grillen. Der Wind hält den Atem an. Die Wolken bleiben hängen. In Zeitlupe schweben wir durch den Raum. 

Und dann geht alles ganz schnell. Die dicke Zigarre schießt wie eine Rakete seitlich an meinem Kopf vorbei und landet vor uns im Staub.  Großvater schlägt einen Purzelbaum die steile Böschung hinunter. Ich rolle kopfüber hinterher. Das Rad kracht laut scheppernd zu Boden.

Unten an der Böschung kommen wir fast gleichzeitig zum Sitzen. Vor meinen Augen tanzen Sterne. Großvaters Schnurrbart bebt gefährlich, in seiner Brust grollt es, und dann poltert dröhnendes Gelächter aus seiner Mundhöhle.

„Das war gut!“, keucht er, holt sein blau-kariertes Schnupftuch aus der Hosentasche und wischt sich die Schweißperlen von der geröteten Stirn. „Das war richtig gut.“

In sicherem Abstand, am alten Birnbaum, lehnt unser Schutzengel. Er scheint irgendwie geschrumpft zu sein. Seine langen, blonden Haare wirken ein wenig fettig, und er ist leicht grün um die Nasenspitze. Seine himmelgrauen Augen blicken düster herüber. 

Wir nicken ihm grüßend zu.

Und weil es so schön ist am Leben zu sein, bleiben wir noch ein Weilchen sitzen und schauen übers Tal.

... und an diesen Ort fahre ich heute! Die Schreiberin grüßt nickend ...

8 Kommentare:

Blumenfreund hat gesagt…

wunderschön! Erinnerungen an Zacharias oder an
Ruppert? Heute nach Windheim?

Schöne Ostern wünschen wir Dir

Gruß
Christine

anSICHThoch3 hat gesagt…

...herrlich!!! Das weckt die Erinnerung an meinen Großvater. ...und wieder habe ich das Gefühl, das es in jeder Familie das gleiche Spiel ist und sich immer weiter fort führt.

Ich wünsche dir viel Spaß an jenem Ort, sie haben ihre eigene Magie.

Ganz liebe Grüße
Claudia

Blumenfreund hat gesagt…

Sorry, wie konnte ich das verwechseln. Die Bestätigung folgte sofort - das war Zacharias.
Er fand es auch super.

Nochmal lieben Gruß
Christine

Michael P. hat gesagt…

Jeder Versuch eines angemessenen Kommentares ist hier von vornherein zum Scheitern verurteilt, daher möchte ich dir einfach nur ganz nüchtern meine Eindrücke schildern.

Diese Geschichte ist, wenn es so etwas gibt, perfekt.

Die kindlich-naive Art der Erzählung, die teils (typisch du) ungewöhnliche Wahl an Wörtern - "...trollt kalte Asche." (einfach spitze!) - und das Gefühl, dabei zu sein, welches du vermittelst, machen sie zu etwas besonderem.

Ich weiß nicht, ob du "Die Stadt der träumenden Bücher" von Walter Moers kennst?
Falls nicht, googel mal nach dem "Orm".
Ich glaube fest daran, das Orm hat dich durchflossen, als du geschrieben hast.

Der letzte Satz krönt dein Werk und wirkt gerade jetzt auf mich wie eine Droge.

Danke!

Blumenfreund hat gesagt…

Alle guten Dinge sind drei. Jetzt kannst Du Dir aussuchen was Dir gefällt.
Er erinnert sich weiter, gerade wird er wieder Kind.
"Schön war das damals. Wir besuchten den alten Mann mit dem großen weißen Schnurrbart. Schokolade hat er uns geschenkt, die war schon etwas weiß. Geschmeckt hat sie trotzdem noch. Leider war ich noch zu klein um ihn fragen zu können, wie es denn damals war, in Verdun. Das Erlebte hat er mit ins Grab genommen. Aber da gab´s ja noch den anderen Opa, der erzählt hat. Unsere Wurzeln, umspielt vom Duft dunkler Tannenwälder, in denen wir wanderten. Eine schöne Kindheit. Und es zieht uns immer an den Ort zurück. Und sie werden wieder lebendig, in unserer Erinnerung. Schau, dort, in Richtung Wagengrund, fährt er da nicht mit dem Fahrrad und raucht seinen Stumpen ?"

Liebe Grüße
Christine

herbst.zeitlosen hat gesagt…

:o) schönen Dank euch allen. Viele Personen meiner Kindheit mischen sich und mischen mit: zwei Großväter, mein Vater, die Tante und natürlich, ganz wichtig, der Ort.
Die Reise stand leider unter einem Unstern. Sie endete nach ein paar Kilometern mitten im fetten Osterstau, wie könnte es auch anders sein. Sie wurde umgepolt in die nähere Umgebung. Auch dort war es schön! O OO

Der Emil hat gesagt…

Ach ... Ich hab das jetzt so oft gelesen.

Mit Deinen Erinnerungen hast Du auch bei mir meine Erinnerungen geweckt. Und ich habe Dich hangabwärts fliegen gesehen, wirklich, und gesehen, wie er dann sein kariertes Taschentuch um Dein aufgeschlagenes Knie gebunden hat ...

Schön!

HANS-PETER ZÜRCHER hat gesagt…

Erinnerungen heist erlebtes Lebeb leben. Ich selbst habe viele solche Kurzgeschichten geschrieben, auch über meinen geliebten Grossvater...

Deine Geschichte ist wunderbar, die ich sehr gerne gelesen habe...

Herzlichst und alles Liebe

Hans-Peter